Jede Menge Glück- Auszüge aus dem Buch
Vom Glück, Musik zu geben.
Birgit B., 49
Musiktherapeutin
Ich lernte Birgit B. kennen, als ich gerade einen Beitrag über ein Kind drehte, das seit Jahren im Wachkoma lag. Wir begleiteten die Pflegerinnen und Ärzte mit der Kamera, nahmen auf, wie sie das Kind fütterten und versorgten. Sie taten das sehr liebevoll, aber das Kind blieb unerreichbar fern und starrte mit offenen Augen in den Raum, den Körper so stark angespannt, dass es, als eine der Pflegerinnen es auf den Arm nahm, steif wie eine Puppe war.
Dann kam Birgit B., die Musiktherapeutin, zu einer Therapiestunde. Sie legte diesem Kind eine Ganzkörpertambura auf den Bauch, ein Instrument ähnlich einer Harfe, das die Schwingungen der Saiten auf den Körper des Patienten überträgt. Die Musiktherapeutin begann leise zu singen und zart die Saiten zu zupfen. „Hallo,“ sang sie, „komm zu mir!“ und wiederholte das einige Male. Es war, als verdichte sich die gesamte Energie im Raum auf die beiden, als trete alles andere in den Hintergrund. Es gab nur noch die Therapeutin und das Kind. Ich stand hinter meinem Kameramann und bekam weiche Knie von dem, was ich da beobachten durfte. Birgit B. sang dieses Kind herbei. Die leblosen Augen bekamen plötzlich Glanz, wanderten in die Richtung der Stimme. Es war, als komme dieser kleine Mensch aus unendlichen Weiten, um diese Stimme, diese Musik zu hören. Es begann, sich zu entspannen, zu vertrauen. Was diese Frau mit ihrer Musik erreichte, war zutiefst berührend. Nach wenigen Augenblicken rollten mir die Tränen die Wangen hinunter. Meinem Team ging es ähnlich, das war deutlich zu spüren. Dieser Drehtag blieb uns allen im Kopf und im Herzen, und mich lässt diese Szene bis heute nicht los.
Ein Mensch, der zu so etwas fähig ist, muss doch wissen, was Glück ist, dachte ich, und rief sie Jahre später an, um sie um ein Interview zu bitten.
Und siehe da: eigentlich sollte alles ganz anders kommen in ihrem Leben.
Eigentlich wollte Birgit B. Tennisprofi werden.
“Tenniskarriere vor der Nase und so ein oberflächliches High-Society-Leben im Auge“ so beschreibt sie das heute, schicke Kleider und tolle Autos, das waren ihre Wertvorstellungen mit 20. Mit 23 hat sie dann geheiratet und ziemlich schnell zwei Söhne bekommen. Und dann wurde sie krank, Krebs, die Ärzte gaben ihr noch ein halbes Jahr zu leben und wollten die Gebärmutter entfernen. Da war sie 26 und mit der Familienplanung noch nicht am Ende.
Sie kämpfte. Um jede Scheibe, wie sie heute sagt. Der Arzt entfernte schließlich nicht die ganze Gebärmutter.
Dann gab sie erst mal Gas. Wenn sie schon nur noch kurz zu leben hatte, dann wenigstens richtig. Lange hielt sie das allerdings nicht durch.
Irgendwann holt die Seele einen ein, damit man das dann verarbeiten kann.
Es folgte eine Zeit der Erschöpfung, der Depression. Und gerade das sei die Zeit gewesen, in der sie eine ganz andere Art der Lebensführung bekommen habe, sagt sie heute.
Die Krankheit als Wendepunkt?
Das war auf jeden Fall ein Wendepunkt. Ich denke, dass man eine gewisse Tiefe braucht, um glücklich oder zufrieden zu sein. Es gibt sicher Menschen, die das von Natur aus sein können. Aber ich erlebe das im Alltag immer wieder, dass viele Menschen unter Oberflächlichkeit leiden, aus Angst vor Nähe oder Tiefe. Und wenn Menschen mal eine Krise erfahren haben, haben sie auch mehr Tiefe. Das spürt man sofort.
Birgit B. ist heute 49 Jahre alt, auch ihr dritter Sohn ist erwachsen. Braungebrannt, in einem leuchtend roten T-Shirt, sitzt sie vor mir, gerade war sie drei Wochen wandern, in Griechenland, mit ihrem Mann, mit dem sie seit über 25 Jahren verheiratet ist, glücklich, wie sie sagt. Sie sieht sehr gut aus, die blonden Haare im modernen Kurzhaarschnitt. Sie wirkt gesund, mitten im Leben, ist eine, die anpacken kann und trotzdem nicht aufdringlich wirkt, die Kraft ausstrahlt und dabei ganz gelassen bleibt. Die aufmerksam und konzentriert zuhört, innerlich auf dem Sprung, im richtigen Moment das richtige zu sagen. Oder auch zu schweigen.
Was ist passiert?
Aus der Tenniskarriere ist nichts geworden. Nach der Krankheit ist sie abgebogen von diesem Weg und zurückgekehrt zu dem, was für sie der Schlüssel zu anderen Menschen, der Schlüssel zum Leben überhaupt ist: Musik.
Als kleines Kind, wenn ich abends im Bett lag, stand meine Mutter mit der Mundharmonika zwischen dem Zimmer meines Bruders und meinem Zimmer und hat uns zwei, drei Gutenachtlieder vorgespielt. Das hat mich so angerührt. Den ganzen Tag hatte sie keine Zeit, war auch oft gereizt, wie Mütter eben so sind. Und da kam so viel Wärme rüber und so viel Liebe, dass ich gedacht hab, das ist es irgendwie.
Und deswegen sitze ich ihr heute gegenüber, in ihrer Praxis, umgeben von einem Klavier, einer Ganzkörpertambura und einer Meerestrommel. Birgit B. ist Musiktherapeutin geworden. Sie arbeitet mit Menschen, die an der Grenze sind, an der Grenze zum Tod oder an der Grenze zu einem neuen Leben. Sie begleitet Sterbende mit Musik, singt ihnen vertraute Lieder vor, lässt die Meerestrommel so lange rauschen, bis die letzten Atemzüge gemacht sind. Sie holt Wachkomapatienten wieder ein Stück ins Leben zurück. Und dann ihr Akkordeon. Das sorgt in dem Altenheim, in dem sie arbeitet, regelmäßig für wackelnde Popos.
Da müssen sie mal mitkommen ins Altenheim! Dann sehen sie, wie viel Spaß das machen kann, wenn ich mit meinem Akkordeon durch die Reihen ziehe. Die laufen mir hinterher, die sind so glücklich! Und innerhalb von zwei Minuten ist das, als wenn sie einen Schalter umknipsen. Die sind alle fröhlich, lachen sich kringelig, heute hat sogar einer getanzt, der im Rollstuhl sitzt. Manchmal fangen die an und wollen auf dem Tisch tanzen. Manche sagen: die sind alle verrückt! Aber sind wir nicht alle ein bisschen gaga?
Aber wie ist das in der Sterbebegleitung, frage ich sie, erlebt sie da auch so etwas wie Glück? Ja, sagt Birgit B., das erlebe sie ganz oft, dass die Menschen glücklich sterben. Mit einem Lächeln sterben.
Meine erste Sterbebegleitung war in Essen in einer Geriontopsychiatrie. Die Dame kannte ich überhaupt nicht. Da haben die Schwestern gesagt: „können Sie mal kurz gucken, haben Sie mal kurz Zeit?“ Ich sag „Ja, worum geht’s?“
„ Die Dame liegt im Sterben.“
Das kam ganz zufällig?
Jaja. Und dann bin ich reingegangen zu ihr ins Zimmer. Sie war auch wirklich schon sehr weit weg, hatte diese letzten, unregelmäßigen Atemzüge. Und dann hab ich gedacht: was machst du denn jetzt? Ich wusste ja auch gar nicht, welche Religion sie hat. Und dann fiel mir dieses „Hallelujah“ ein, das würde sie vielleicht auch aus der Kirche kennen. Also habe ich angefangen zu singen und „Bing!“ gingen die Augen auf. Sie guckte mich an und ich merkte, dass es ihr immer schlechter ging. Sie nahm meine Hand und ich habe das Vater Unser gebetet. Das hat sie mitgebetet, ich sah, dass sich die Lippen so ein bisschen bewegten. Dann kam der letzte Atemzug, und sie ist total glücklich eingeschlafen.
Auch mit einem jüngeren Patienten im Hospiz habe ich das erlebt. Den hab ich mit einer Meerestrommel begleitet und mit der Körpertambura. Am Anfang war er so ein ganz knöcherner Typ, so nach dem Motto: ich hab hier meinen Computer, Musik interessiert mich ja gar nicht. Bei der Oceandrum konnte er sich dann aber schon lockern und erzählte dann über seine schönen Urlaubserlebnisse, wir haben viele Stunden miteinander verbracht. Und dann kam die Sterbestunde. Er legte sich hin, nach dem Motto: so, jetzt passiert es gleich, und dann hab ich sehr lange gesessen. Eigentlich wollte ich auch noch zu einem anderen Patienten. Aber er flüsterte: „Hier bleiben! Hier bleiben!“ und legte sich wieder so bereit. Er starb noch in dieser Stunde und ich empfand das als sehr glücklich, wie er losgelassen hat.
Wenn man das jemandem erzählt, das glaubt man gar nicht, aber es war so.
Ob der Tod für sie dadurch seinen Schrecken verliert, möchte ich wissen.
In diesen Momenten ja. Ich kann da ganz viel draus lernen, weil ich natürlich auch Angst vor dem Tod habe, und wenn ich das dann sehe, gibt mir das Kraft und ich denke, ach, vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.
Eine gelungene Sterbebegleitung. Wachkomapatienten, die auf sie reagieren, ihr lauschen, ihr durch noch so kleine Signale zeigen, dass sie da sind. Ein einfaches Lächeln eines Patienten, eine Entspannung nach einer Spastik, ein Durchatmen. Ein dementer Bewohner, der unter Angstzuständen leidet, sich getrieben fühlt, der sich aber freut, wenn er ihre Stimme hört: „Ach, Gott sei dank, da sind sie ja endlich!“
Das sind die großen, die täglichen, die wuchtigen Momente des Glücks im Leben der Birgit B.
Ach!, sagt sie dann am Ende des Gespräches, da falle ihr noch ein, das Wichtigste habe sie noch gar nicht gesagt.
Noch was? Was kann da noch kommen?
Meine Familie. Drei gesunde Söhne zu haben und 25 Jahre verheiratet zu sein, das ist für mich das größte Glück.
Nic
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